Adriana Soares reist nach Brasilien, um ihrer Familie ihren deutschen Bräutigam vorzustellen und stolpert dabei über eine Leiche. Ein unterhaltsamer Krimi in Rio de Janeiro.
01 Bei so einem perfekten Wetter würde keiner an Mord denken. Jedenfalls Sara nicht. Und ihr Freund Rodrigo ebenso wenig. Das junge Paar machte Urlaub in der Stadt Muriqui im Bundesstaat Rio de Janeiro. Die beiden waren in aller Frühe aufgestanden, um zum Strand zu gehen und den Sonnenaufgang zu betrachten. In der Morgendämmerung war der Strand fast menschenleer. Deshalb war Sara überrascht, einen Jungen zu sehen, der sich ihnen ohne Eile näherte. Er trug eine schäbige kurze Hose, ein ausgewaschenes Hemd und stapfte barfuß durch den weichen Sand. Sara hegte keinen Zweifel, dass er ein Straßenkind war. »Ich finde, das ist keine gute Idee, Rodrigo«, sagte sie und schüttelte den Arm ihres Freundes. »Ich bin sicher, er wird davonlaufen.« Rodrigo pumpte seinen Brustkorb auf und streckte sich, stolz wie ein Pfau. »Wehe, er läuft weg … dann laufe ich ihm nach. Ich bin der schnellste Läufer meiner Klasse.« »Der schnellste Läufer, der beste Fußballer, der größte Angeber, das steht fest.« Sara schaute ihren Freund unwillig an. Außer ihnen und dem Jungen hielt sich am Strand nur noch eine Gruppe von Fischern auf. Starke Männer mit freien Oberkörpern und von der Sonne gebräunter Haut. Mehrere Männer schoben gerade mit Schwung eines ihrer Holzboote durch den Sand. Sara schüttelte den Arm ihres Freunds erneut. »Du wirst ihn nie im Leben einholen.« Rodrigo begutachtete noch einmal die ›Selfies‹, die er von sich und Sara mit dem ausgestreckten Arm mit dem Handy gemacht hatte. Er war von dem Ergebnis nicht begeistert. Sara und er waren im Vordergrund gut getroffen, aber von dem ins goldene Licht der Morgendämmerung getauchten Meer hinter ihnen war kaum etwas zu sehen. Das Straßenkind kam näher. »Onkel, willst du ein Foto?«, fragte der Junge. »Ich mach’s.« Rodrigo runzelte die Stirn. Sara konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Rodrigo mit seinen zweiundzwanzig Jahren hielt es offensichtlich für eine Beleidigung, ›Onkel‹ genannt zu werden. »Oh, danke, super Vorschlag«, antwortete Rodrigo und übergab mit einer pompösen Geste dem Jungen sein Handy. Sara seufzte leise. »Rodrigo …« Rodrigo schüttelte den Kopf. »Lass ihn doch das Foto machen!« Der Junge stank. Nach Schweiß und anderen Körperausdünstungen. Er nahm das Handy und lächelte. Er suchte etwas Abstand, hielt das Handy auf Augenhöhe und wich dann, als ob ihn etwas störte, nochmals zwei Schritte zurück und legte den Kopf zur Seite. Rodrigo und Sara posierten für die Kamera. Sie umarmten sich und grinsten. Das Meer glitzerte golden hinter ihnen. Plötzlich wandte sich der Junge um und lief weg. Das Paar wechselte kurze Blicke. Rodrigo machte einen Satz nach vorn und rannte dem Jungen hinterher. Sara schüttelte den Kopf, während die beiden sich von ihr entfernten. Sie rannten den Strand entlang. Die agilen Füße des Jungens wirbelten den Sand auf. Er lief im Zickzack. Rodrigo klebte dicht hinter ihm. Seine Füße bohrten tiefe Fußabdrücke in den weichen Sand. Rodrigos Herz raste, das Blut kochte, der Schweiß rann. Mit puterrotem Gesicht lief er dem Jungen nach. Die Trommel in seiner Brust wummerte immer lauter. Er beschleunigte, sodass er glaubte zu platzen. Der Junge schien beinahe zu fliegen und der Abstand vergrößerte sich. Rodrigo schrie voll Entschlossenheit. »Haaaaalt!« Sie rannten und verausgabten ihre Kräfte restlos. Zwei Wahnsinnige an einem verlassenen Strand. Das grüne, fast wellenlose Meer erstreckte sich hinter ihnen wie ein Spiegel. Ruhig und unbeteiligt. Die Sonne zauberte klitzekleine Diamanten auf die Wasseroberfläche. Der Junge drehte sich zu Rodrigo um, um seinen Vorsprung abzuschätzen. Mitten im Lauf prallte er gegen einen Haufen Sand, stolperte und stürzte lang hin. Die dünnen Beine, die langen Arme zappelten im Sand, das Handy segelte durch die Luft und fiel ein paar Meter weiter zu Boden. Rodrigo, der den Jungen fast eingeholt hatte, fand keine Zeit mehr, auszuweichen. Den Körper überhitzt, den Hals trocken, den Atem knapp, prallte er ebenfalls gegen den Sandhügel. Der aufgetürmte feine Zuckersand fühlte sich hart an wie eine Mauer. Rodrigo schnaufte, sein T-Shirt war klebrig, überall verteilten sich Sandkörnchen, auf der Haut, den Shorts, im Gesicht, im Mund. Er spuckte und wollte sich aufrappeln, als er hinter dem Hügel eine seltsame Szenerie erblickte. Dort lag ein Mann auf dem Bauch. Er trug einen Anzug, sein Gesicht bohrte sich in den Sand. Rodrigo suchte mit den Augen nach dem Jungen, aber der war verschwunden. Das Handy lag dicht neben dem Mann auf dem Boden. Rodrigo bemerkte, dass der Mann nicht allein war. Eine Frau im Brautkleid lag nicht weit entfernt von ihm in Rückenlage mit geschlossenen Augen. Ihr blütenweißes Kleid verunzierte ein riesiger roter Fleck im Bauchbereich. Der Brustkorb der Frau hob und senkte sich schwach. »Alles in Ordnung?«, fragte Rodrigo. Sie antwortete nicht. Rodrigo griff sich das Handy und erhob sich. Er klopfte sein T-Shirt ab und sah dann zu dem Mann. Der lag ausgestreckt neben einer Vertiefung auf dem Boden, es sah aus, als hätte jemand versucht, eine Grube zu schaufeln, und nach einer Weile aufgegeben. Die ausgehobene Grube erklärte den Haufen Sand, über den der Junge und Rodrigo gestolpert waren. Rodrigo betrachtete das Paar aufmerksam und sah neben der Frau ein großes rot verschmiertes Küchenmesser liegen. Zu Rodrigos Erstaunen bewegte sich die Frau im nächsten Augenblick und öffnete langsam ihre Augen. Sie blinzelte, mehrmals die Stirn runzelnd, schaute um sich, starrte Rodrigo kurz an. Ihr lockiges Haar sah aus wie ein Vogelnest. Dann stand sie mühsam auf, kniete sich neben den Mann und versuchte, ihn umzudrehen. Ruckartig zog sie an ihm. »Nein, nein …«, sagte sie. Immerzu wiederholte sie diese Worte, während sie ihn rüttelte. Der Mann lag regungslos da, wie eine große Schaufensterpuppe. Die Frau weinte. Sie bemerkte den Fleck auf ihrem Brautkleid und heulte auf. Sie sagte etwas Unverständliches. Rodrigo beugte sich nach vorne. »Wie bitte?« Sie schüttelte den Kopf, Tränen strömten über ihr Gesicht. Ihre volle Aufmerksamkeit war auf den Mann gerichtet. »Er ist tot«, sagte sie und drehte sich zu Rodrigo um. »Und ich habe ihn umgebracht.«